Die gravierenden Unterbrechungen der weltweiten Warenströme zwingt Unternehmen, sich über ihre Schwachstellen klar zu werden, um besser gegen künftige Krisen gewappnet zu sein.
In den letzten zwei Jahren kam es zu einer der größten Umwälzungen der globalen Lieferketten seit Menschengedenken. Die COVID-19-Pandemie, die nationale Abschottungen von China bis Europa und den USA auslöste und deren wiederholte Ausbrüche, gefolgt von schweren Lockdowns, nach wie vor ein großes Problem darstellen, brachte das Angebot durcheinander und lähmte anschließend die Nachfrage. In jüngster Zeit hat der Einmarsch Russlands in der Ukraine die Energiepreise in die Höhe getrieben, die Inflation angeheizt und die Sorge um die Lebensmittelsicherheit verstärkt.
Wie Larry Fink, Chairman und CEO der Investmentgruppe BlackRock, die ein Vermögen von rund 10 Billionen US-Dollar verwaltet, in seinem jährlichen Brief an die Aktionäre im vergangenen Monat schrieb, “hat der russische Einmarsch in der Ukraine der Globalisierung, die wir in den letzten drei Jahrzehnten erlebt haben, ein Ende gesetzt”. Doch was bedeutet dies alles für Unternehmen, die ihre angeschlagenen Lieferketten reparieren, auf Nachfrageveränderungen reagieren und Widerstandsfähigkeit aufbauen wollen? Und wie können Organisationen, die bereits durch die Umstellung auf eine klimaneutrale Produktion und erhöhte Bedrohungen durch Cyberangriffe herausgefordert sind, in der Supply Chain Krise eine Chance sehen?
Diese Fragen haben an Dringlichkeit gewonnen, da viele Unternehmen immer noch in einer Art Vorratshaltung operieren, nachdem sie auf die Pandemie mit dem Aufbau von Lagerbeständen reagiert haben. Ein Teil der Unternehmen befasst sich mit ihren Lieferketten und versucht mittel- und langfristige Strategien zu erarbeiten, letztlich wissen sie aber häufig nicht genau, was sie tun sollen. Ein anderer Teil der Unternehmen agiert noch überwiegend, wenn nicht gar ausschließlich, im Reaktionsmodus. Der Großteil der Ressourcen ist hier operativ gebunden — als Teilejäger oder anderweitig zur Brandbekämpfung. Strategische Aspekte kommen zu kurz.
Turbulenzen in der Lieferkette sind eine wichtige Erinnerung daran, wie integriert und vernetzt die globale Wirtschaft geworden ist. Selbst einheimische Unternehmen, die auf regionale Produkte spezialisiert sind, haben plötzlich erkannt, dass sie viel stärker von den globalen Märkten abhängig sind, als sie dachten. Es hat sich auch gezeigt, wie wenig die Unternehmen vor 2020 über ihre Lieferketten wussten: Laut einer McKinsey-Umfrage aus dem letzten Jahr gaben nur 2 Prozent der befragten Unternehmen an, dass sie einen Einblick in ihre Lieferketten jenseits der Tier-2-Lieferanten hatten. Der erste Schritt für jedes Unternehmen, das eine Unterbrechung der Lieferkette in eine Chance umwandeln will, darin besteht, deduktiv vorzugehen und breiter nach Arten von Ausfällen, Schäden und Abnutzungen in der gesamten Wertschöpfungskette zu suchen, die die Kerngeschäftsziele gefährden könnten. Nicht mit spezifischen Risiken im Kopf starten, sondern zuerst verstehen, wo man verwundbar ist , wo es wirklich weh tut, und sich von dort aus zurückarbeiten.
Um diese Schwachstellen zu beseitigen, müssen die Lieferketten wahrscheinlich diversifiziert werden, um die Abhängigkeit von einem bestimmten Lieferanten zu verringern. In der Zwischenzeit kann die Lokalisierung von Lieferketten dazu beitragen, die Kohlenstoffemissionsziele im Zusammenhang mit den Net-Zero-Zielen eines Unternehmens zu erreichen. Sie kann aber auch die Abhängigkeit von der internationalen Logistik verringern, die durch die anhaltende COVID-19-Pandemie traumatisiert wurde und weiterhin unter dem Russland-Ukraine-Konflikt leidet: Laut einem Bericht der Internationalen Schifffahrtskammer (ICS) aus dem vergangenen Jahr stammen mehr als 14 Prozent der weltweiten Seeleute entweder aus Russland oder der Ukraine — eine Zahl, die darauf hindeutet, dass die Seeschifffahrtsbranche in nächster Zeit mit einem zunehmenden Arbeitskräftemangel konfrontiert sein könnte.
Unternehmen versuchen sollten, ihre Lieferketten kundenorientierter zu gestalten und ihre Marketingstrategien mit den Lieferketten abzustimmen, um sich auf Produkte zu konzentrieren, die entweder auf Lager oder leicht verfügbar sind. Aufgrund durch die Pandemie veränderter Verbrauchergewohnheiten ist es allerdings für Unternehmen sehr viel schwieriger geworden, vorherzusagen, was die Kunden zu kaufen bereit sind. Viele Unternehmen versuchen immer noch herauszufinden, ob ihre Kunden zu ihren alten Gewohnheiten zurückkehren, ob die neu erworbenen Gewohnheiten bestehen bleiben oder ob eine Mischform aus beidem Bestand haben wird.
Um auf zukünftige Störungen der Lieferketten reagieren zu können müssen Unternehmen, in eine verstärkte Digitalisierung der Lieferketten investieren, was Vorteile wie Datenreplikation, Wiederherstellungsmöglichkeiten und Rückverfolgbarkeit des Datenzugriffs mit sich bringt. Gleichzeitig ist es wichtig, künstliche Intelligenz einzusetzen, um künftige Schocks in der Lieferkette vorherzusehen, zu überwachen und darauf zu reagieren. Auch die Cybersicherheit ist ein oft vernachlässigter Aspekt moderner Lieferketten. Die vielfältigen Datenströme zu und von einem Unternehmen sind ein zentraler Bestandteil der heutigen Lieferketten, und jede Unterbrechung, jedes Abfangen, Umleiten oder Abhören dieser Datenströme kann das gesamte Unternehmen gefährden. Viele Unternehmen lagern ihre Datenverarbeitungsdienste an Cloud-Service-Anbieter aus, was kostengünstiger als vor Ort sein kann und auch sicherer ist, da Cloud-Dienste integrierte Cybersicherheitsfunktionen bieten und Sicherheits-Patches systematisch und schnell anwenden. Aber sie sollten alle Auslagerungen in einem Register dokumentieren und größere Risikobewertungen durchführen. Außerdem sollten sie sicherstellen, dass die Verträge mit Cloud-Diensten Anforderungen an die Informationssicherheit und den Datenschutz enthalten, die über Dashboards und spezifische Warnverfahren überwacht werden können. Geschäftskontinuität und Wiederherstellungskapazitäten, Datenübertragbarkeit, Recht auf Prüfung oder Recht auf Ausstieg sind weitere wichtige Aspekte, die Unternehmen in ihren Outsourcing-Verträgen berücksichtigen müssen. Datenverträgen verdienen große Aufmerksamkeit, um sicherzustellen, dass Lieferketten widerstandsfähig sind.
Die Bewältigung der heutigen Herausforderungen in der Lieferkette erfordert Planungen in einer Größenordnung — und mit einer Tiefe -, die nur wenige Unternehmen bisher unternommen haben. Unternehmen müssen sich darauf einstellen, das Unerwartete zu erwarten — und darauf vorbereitet sein, wenn es eintritt.